Wer bin ich ohne Arbeit? – Wer bin ich, ohne etwas zu leisten? 

Die Kriegsenkel-Expertin Ingrid Meyer-Legrand verschickte neulich eine Mail*, die ich hier gerne wiedergeben möchte: 

 

"Auch die Kriegsenkel:innen kommen langsam in die Jahre und viele können auf eine reiche Lebensbilanz schauen. Wenn sie aber ans „Alter“ denken, dann sind sie keineswegs gelassen. Viele wollen jetzt endlich „wesentlich“ werden, endlich ankommen oder sich gar neu erfinden. Warum die Suche in dieser Lebensphase nicht deutlich gelassener ausfällt, wird an der folgenden Anfrage an mich deutlich: 

 

Ich bin in einem neuen Lebensabschnitt angekommen und habe nun alle Freiheit, das zu tun, was ich will. Ich komme aber nicht zur Ruhe, weil ich mich frage: Wer bin ich eigentlich ohne Arbeit? Wer bin ich, ohne etwas zu leisten? 

 

Die Dynamik der Nachkriegsfamilien hat von den Kriegsenkel:innen vor allem eins gefordert: für die vom NS und Krieg, von der Flucht und Vertreibung traumatisierten Eltern da zu sein und zu helfen. Für die Familie da zu sein und sich einzusetzen, immerzu zu leisten, das war in gewisser Weise die Lebensstrategie der Kriegsenkel:innen, als Kinder in traumatisierten Familien vorzukommen. Dieses, ins Private abgeschobene Leid der (Kriegskinder-)Eltern gehörte zum Grundrauschen in den Nachkriegsfamilien, in denen die Kriegsenkel:innen groß geworden sind. Gelernt haben viele daraus:

 

Geliebt werde ich nur, wenn ich etwas leiste. 

 

Wohin aber mit sich, wenn dieses Leisten plötzlich nicht mehr notwendig ist? Wie lässt sich der neue Lebensabschnitt gelassener angehen?"

Der Text hat mich nachdenklich gemacht. Meinen Fokus auf einen besonderen Blickwinkel für unsere Generation geschärft. Wir stehen nicht nur vor der allgemeinen Herausforderung, uns vom Berufsleben zu verabschieden. Vor dieser Herausforderung, vor der schon viele andere Generationen gestanden haben. Für uns ist es noch ein bisschen schwerer. Seit ich denken kann, wurde ich für Leistung belohnt. Für gute Noten in der Schule, für ein gutes Vorspiel mit der Geige, für mein Diplom an der Uni... Das waren Belohnungen, die ich von anderen mir wichtigen Menschen bekommen habe. Meistens waren dies meine Eltern, später war mir auch das Lob vom jeweiligen Partner und besonderen Freunden wichtig. Und gelobt wurde für Leistung. Im Berufsleben habe ich das Lob für Leistung durch Geldzahlungen ersetzt. Je mehr Geld ich bekomme, desto mehr leiste ich, desto mehr darf ich Sein. Einfach so Sein, war noch nie mein Konzept. 

 

Auf der einen Seite ist es tröstlich, auf der anderen Seite beängstigend, dass ich damit sicherlich nicht alleine bin. Ein Großteil unserer Generation hat gelernt, zu leisten. Sich mit Leistung den eigenen Platz in der Gesellschaft zu erschaffen. Leistung als etwas normales wahrzunehmen, was so normal ist, wie atmen. Wir haben nicht gelernt, einfach nur zu sein und in diesem Sein eine Lebens-Berechtigung zu haben. Unsere Eltern waren nicht in der Lage, uns emotional das Gefühl zu geben, das wir gerade richtig so sind, wie wir sind. In allen unseren Facetten. Weil sie es selbst nicht lernen konnten, weil sie im Zweifel noch einsamer durch ihre Kindheit gegangen sind. Kinder im Krieg eben.

 

So dramatisch sich das anhört, so sehr erklärt es, warum ich in regelmässigen Abständen tierisch unruhig werde, wenn ich mir meine Zeit ohne Arbeit ausmale. Ich entdecke Widerstände und dachte zunächst, dass es damit zusammenhängt, dass meine Außenwelt meine Entscheidung mit 55 in Rente zu gehen, nicht nachvollziehen könne. Dem ist aber nicht so. Alle Menschen, denen ich bisher von dieser Entscheidung erzählt haben, haben zwar interessiert gefragt, was ich dann mache, aber definitiv nicht ablehnend oder gar panisch reagiert. Nicht mal meine Eltern. Der Widerstand ist in mir.

 

Wer darf ich sein, wenn ich nicht leiste?

Das ist die zentrale Frage, auf die ich aktuell noch keine endgültige Antwort habe. Im Augenblick entdecke und erlaube ich viel. Ich erlaube mir, ausgiebig Freizeitaktivitäten nachzugehen, die sonst nur dem Wochenende oder den Abenden vorbehalten sind. Und dabei meine ich nicht anspruchsvolle Aktivitäten wie ein Museumsbesuch oder eine große Radtour. Sondern eher Hörbücher, Krimis, Netflix und Stunden auf der Terrasse. So halt gammeln. Ich warte darauf, dass es mir langweilig wird. Oder ich es genießen kann, ohne dass ich darauf warte, dass etwas Neues eintritt. Muss es ja vielleicht gar nicht. 

 

Die Unruhe in meinem Kopf ist aber trotzdem da. Sie murmelt so Sachen wie: "Was für eine Zeitverschwendung" - "Du könntest jetzt auch am Rechner was machen" - "Die Wäsche, die Spülmaschine, das Abendbrot..." - "Schreib doch einen Blogbeitrag, wenn Du schon sonst nicht mehr arbeiten willst". Leistungsstimmen in unterschiedlichen Tonlagen, in unterschiedlicher Intensität und verbunden mit unterschiedlichen Emotionen. Manchmal bin ich schon ganz gut, ihnen nicht so viel Bedeutung beizumessen. Aber manchmal bin ich auch baff erstaunt, wie die Gemengelage aus inneren Stimmen und Gefühlen es dann doch schafft, dass ich bereits um 16 Uhr das Abendessen koche/vorbereite, bloss um nicht einfach nur ein Buch zu lesen... 

 

Kennst Du das auch? Wie gut bist Du im Sein? Ohne zu leisten, Dich selbst als eine wunderbare Person anerkennen zu können? Ich freu mich, von Dir zu lesen und von Dir zu lernen. Oder zu wissen, dass ich nicht alleine bin, mit meinem Leistungsstreben. Ich weiß, ich bin es nicht. Und ich will es auch nicht nur negativ sehen, übrigens. Wir haben dadurch ja sehr viel geschafft in unserem Leben. Und wahrscheinlich werde ich auch in der Zeit des Nicht-Geld-Verdienen-Müssens noch sehr viel schaffen. Für eine bessere Welt. Wenn das auch wieder mit Leisten zu tun hat. Ich hätte bloss gern mehr Wahlmöglichkeiten!!! 

 

* Ingrid Meyer-Legrand lädt jeden Mittwoch zu einem Kriegsenkel:innen Live-Call ein. Die oben zitierte Mail war eine solche Einladung. 

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Wolfgang (Mittwoch, 02 November 2022 18:51)

    Hallo,
    Ich erkenne mich in diesem Text zum Teil sehr gut wieder.

    Bei mir war es aber eher der umgekehrte Schluss, den ich aus dieser Situation gezogen habe. Ich habe meine Lebensarbeitszeit über den regulären Zeitpunkt des Beginns meiner Versorgungsbezüge um ein Jahr verlängert.
    Ich habe mit 14 Jahren angefangen zu arbeiten und mit fast 67 Jahren aufgehört. Damals Schule im 8. Jahr abgebrochen, bis zum Abitur in der Abendschule durchgehalten, duales Studium, berufliche Fortbildungen, Aufstieg. Zwischendurch Personalrats- und Gewerkschaftsvorsitzender. Viele Dienstreisen und oft Nebentätigkeiten.
    Ich habe für meine Erwartungen an mein Leben ein gutes Auskommen und auf Grund rechtzeitiger Vorsorge für mich und meine Frau auch ein kleines Vermögen aufgebaut und ein schuldenfreies Haus erarbeitet. Materielle Sorgen sind nicht die größten, wobei Mann sich sicherlich um Geld und Anlagen kümmern muss.

    Mein Umfeld hat mit großem „Nichtverstehen“ darauf reagiert, dass ich nicht frühzeitig und noch nicht einmal zum regulären Termin aus dem Dienst ausscheiden wollte!
    Mir hat die Arbeit als höhere Führungskraft im öffentlichen Dienst aber sehr viel Freude bereitet und in „meinem“ IT-Bereich war es immer fordernd und spannend.
    Meine Vorgesetzten und Mitarbeitenden haben mir immer das Gefühl gegeben dringend gebraucht zu werden, was sich auch in gegenseitiger Wertschätzung ausgedrückt hat.

    Dann kam der Alltag als „Rentner“. Meine Frau geht immer noch Teilzeit arbeiten und freut sich darüber, mir Aufgaben aus dem häuslichen Bereich übertragen zu können. Ich habe einen neuen Chef!

    Nach gut einem Jahr habe ich das ungute Gefühl am 01. eines Monats, plötzlich viel Geld für‘s Ausruhen vom Nichtstun, immer noch nicht überwunden.

    Aber was soll ich sagen, Mann richtet sich das Leben ein, nimmt sich für alles etwas mehr Zeit und sucht neue Beschäftigungsfelder.
    Ich habe immer Sport getrieben, jetzt wird es ein bisschen mehr.
    Ich habe immer Musik gemacht, es bleibt bei der Bass-Gitarre.
    Ich habe immer geradelt, ein neues E-Bike ist in dem Jahr bereits 6.000 Km gefahren worden.
    Ich bin immer Motorrad gefahren, es bleibt dabei.
    Das Leben hat mir so viel gegeben, dass ich immer das Gefühl habe etwas zurückgeben zu müssen. Angefangen von ehrenamtlichen Tätigkeiten über Hilfestellungen für meinen Sohn und Enkel, bis zu Geldspenden für Menschen, die es nicht so gut im Leben angetroffen haben.
    Es ist trotzdem immer noch komisch, das aufzugeben was mir Spaß gemacht hat und nun etwas zu suchen, was mir vielleicht Spaß macht.
    Da ich schon immer vielseitig interessiert war, tummel ich mich im Internet, schreibe Politiker, Presse und Firmen an, um klima- und umweltpolitische Themen zu platzieren. Ich habe mich in einer lokalen Umweltinitiative eingebunden und in und mit der Giordano-Bruno-Stiftung kümmere ich mich um das „Seelenheil“ der lieben Mitmenschen und versuche alle Kirchenführer und Kirchen hinter dei dicken Mauern der Tempel zu verbannen und vom Geldhahn abzuschneiden

    Der Gedanke, wieso ich so bin wie ich bin, lässt mich bei allem aber auch nicht los. Wieso bin ich so leistungsbezogen? Warum ist es schwer erträglich der Menschheit beim Arbeiten untätig zuzusehen?
    Ich war lange in der Altersversorgung tätig und die modernen Lebensläufe machen dem System schwer zu schaffen. Vom alten Bismark entworfen, als man mit 14 anfing zu arbeiten, mit 65 in Rente ging und mit 75 tot war, sieht es heute ganz anders aus. Bis 30 studieren, bis 60 arbeiten, bis 90 Rente. Also mit 30 Jahren Leistung 60 Jahre finanzieren. Das wird schwer!

    Zudem hat mir meine Vita ermöglicht vergleichsweise ruhig in die Zukunft zu blicken.
    Und wenn final gar nichts mehr geht, würde ich gerne auf einen Sterbehilfeverein zurückgreifen.

    Warum habe ich das Gefühl, alles selber im Griff haben zu müssen?
    Keinem zu Last fallen, weil man in jungen Jahren bereits einmal als Schulabbrecher versagt hat und der Vater orakelte, dass aus mir nie mehr was würde?
    Ehrlich gesagt … keine Ahnung!
    Aber ich fühle mich besser, wenn mein Leben weitestgehend selbstbestimmt abläuft!

    Wir haben uns aber vorgenommen, über alle diese Gedanken das Leben nicht zu vergessen. Gemessen an unserem Anspruch an das Leben, sollten wir alles mit den vorhandenen Mitteln finanzieren können, wenn Putin oder sonstwer uns nicht in die Quere kommt.

    Ihnen ein gutes Gelingen bei dem Abenteuer Ruhestand. Gerne lese ich hin und wieder weiter von Ihrem Projekt!
    Bis dahin!

  • #2

    Cathrin Anders (Montag, 08 Mai 2023 11:35)

    Danke! Ich erkenne mich sehr gut wieder, ebenso wie meine Eltern! Nur aktiv, nie mehr als nötig ausruhen, die Haltung, man werde dafür am Ende irgendwann belohnt, gegebenenfalls von sich selbst!
    Dann landete ich beruflich im Sozialwesen und merkte sehr schnell, Leistung in meinem Sinne ist verpönt, eher nervig und „zu hoch im Anspruch“.
    Ich bin seitdem extrem unglücklich, darin ganzes Arbeits-Wesen nun nicht mehr passend scheint, oft sogar als zu anstrengend, fordernd und nervig abgelehnt wird! Es gibt ja auch kein „echtes“ Ergebnis meiner Arbeit!
    Echt schwierig ..,,,