Die Kunst, sich zu entscheiden

Wir haben uns für Kassel entschieden und bekommen viele, viele Rückfragen. Ich schaue in erstaunte Gesichter, selbst hier in den Kommentaren kommt die Rückfrage, warum bitte Kassel? 

 

Ich kann dazu nur sagen, dass war ein bisschen Bindung und ein bisschen Zufall. Noch viel wichtiger habe ich aber wahrgenommen, dass die Zeit reif war für eine Entscheidung. Jeder neue Wohnort bringt Vor- und Nachteile mit sich, es wird sogar viele Vor- und Nachteile geben, die wir erst entdecken, wenn wir dort sind. Die Suche nach der Lösung insbesondere ohne Nachteile führt allerdings oft zum Stillstand. Zu einer Nicht-Entscheidung, weil eben alles auch irgendwelche Nachteile mit sich bringt. Dann wären wir in Berlin geblieben.  

Zu bleiben, weil man das Risiko nicht eingehen will, etwas falsch zu machen, ist bei der möglichen Entscheidung, im Alter nochmal umzuziehen, eine häufige Konsequenz. Ich höre von vielen Menschen, dass sie uns wahlweise bewundern für diesen mutigen Schritt oder uns die ganzen Fallstricke aufzählen, die sie selbst gescheut haben und die sie jetzt für uns als Horrorvision vorab visualisieren. Ein klarer Fall von Projektion, aber nicht schön! In beiden Fällen hätte man wahrscheinlich selbst gerne gewollt, wenn man sich denn getraut hätte. Meist sind diese Gesprächspartner über 75. Der Zug ist für sie abgefahren. Sie werden mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr aus eigenen Stücken die Entscheidung für einen neuen Wohnort treffen. Wenn es nochmal zu einem Umzug kommt, dann nicht aus der Lust, etwas Neues zu erleben, sondern aus der Notwendigkeit, weil der alte Wohnort aus welchen Gründen auch immer nicht mehr praktikabel ist. 

 

Es geht also zunächst darum, eine innere Entscheidungsbereitschaft herzustellen. Beharrlich dran zu bleiben und sich nicht entmutigen zu lassen, wenn der eine oder andere Ort oder die Immobilie doch nicht so toll ist, wie man sich dies zunächst ausgemalt hat. Wir haben erst mit der Zeit gelernt, die unterschiedlichen Vor- und Nachteile für uns zu bewerten und uns immer mehr dem anzunähern, was für uns wichtig ist und was auch eben unwichtig ist. 

Warum jetzt aber Kassel?

Thomas kommt aus Göttingen, ich habe in Kassel im Studium (und danach) 11 Jahre gerne gelebt. Göttingen finde ich definitiv die schönere Stadt, zunächst haben wir deshalb auch in Göttingen gesucht. Aber nichts gefunden. 

 

Darüberhinaus haben wir auch breiter gesucht. Meine Heimat, das Rheinland, die Region um die Ostsee genauso wie Brandenburg waren immer Ziele, die ich in den unterschiedlichen Suchmaschinen mitgescannt habe. Irgendwann wurde mir klar, dass die Offenheit für viele Regionen die Entscheidung nicht einfacher macht. Deshalb haben wir uns irgendwann wieder mehr eingeschränkt. Eingeschränkt auf Regionen, in denen wir Menschen kennen. 

Bindungen sind für uns zentral

Durch mein Studium habe ich in Kassel immer noch Freunde. Nicht viele, aber gute. Freunde, die den Kontakt gehalten habe, auch wenn ich über 20 Jahre in Berlin gelebt habe und nur selten nach Kassel gekommen bin. Die beste hat - nachdem ich ihr unser neues Wohnprojekt nur mal so zugeschickt hatte - gleich verkündet, sie will da auch einziehen. Was sie jetzt tun wird. Und das freut mich ungemein. Gemeinsam alt zu werden, ist das nicht eine schöne Vorstellung?

 

Thomas hat in Kassel und in der Nachbarstadt Göttingen Verwandtschaft. Schwester, Bruder und Cousine rücken näher an uns ran. Das macht den Umzug nach Kassel für ihn wertvoll. 

Kassel ist aber auch Zufall

Kassel hat als Stadt kein besonders gutes Image. Menschen, die mit dem Auto die Stadt durchqueren, erinnern sich an chaotische unübersichtliche Straßenführungen und 50er Jahre Architektur. 

 

Menschen, die nur am Bahnhof Wilhelmshöhe umsteigen, erinnern sich an lange Rampen, ein überdimensioniertes Dach und wenn es ganz hoch kommt, auf einen schönen Blick hoch zum Herkules. 

 

Beides macht keine große Lust auf Kassel. Ich gebe auch zu, dass selbst auf den zweiten Blick Kassel seinen Charme noch nicht entfaltet. In 11 Jahren Kassel, sogar mit einer kurzen Episode als Stadtverordnete, habe ich aber sehr viele schöne Details in Kassel kennengelernt. An diese Erinnerungen knüpfe ich jetzt gerne an. 

Vor- und Nachteile gibt es immer!

Kassel hat, wie jede Stadt in dieser Größe, eine gewisse Infrastruktur zu bieten. Zunächst ist da der öffentliche Nahverkehr, wir werden im Alter nicht auf das Auto angewiesen sein. Dann haben wir die Nahversorgung mit Geschäften und Ärzten im Blick. Auch die bietet eine Stadt von dieser Größe natürlich. 

 

Gleichzeitig bietet Berlin definitiv mehr. Meinen geliebten Japaner werde ich wahrscheinlich in Kassel nicht ersetzen können. Aber normales Sushi werde ich auch in Kassel finden. 

 

Und wir haben in Kassel nicht die Ostsee. Gleichzeitig aber relativ kurze Wege zu meinen Eltern und Freunde in der Nähe. Dies war ein Grund, nicht an die Ostsee zu ziehen. Bis ins Rheinland ist das echt weit. Außerdem ist Nordhessen eine wirklich schöne Gegend.

 

Wir haben uns entschieden und es fühlt sich gut an. Wie ist das bei Dir? Was hält Dich davon ab, Dich zu entscheiden? Oder was hat Dir geholfen, Dich zu entscheiden? 

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Wolfgang (Sonntag, 10 Juli 2022 22:01)

    Wir [68/77] sind 2020 aus (dem nördlichen) Baden-Württemberg unterwegs gewesen um uns ein Grundstück zu kaufen. Um nochmal ein Haus zu bauen. Nach langem Suchen fanden wir es in Bad Hersfeld, der Architekt fertigte den Plan und im März 2021 wurde unser Bauantrag genehmigt: Haus in Hanglage, 1 km vom Zentrum und zu 80% aus Holz, energiesparend und nur die unbedingt notwendige Fläche, rollstuhlgerecht etc. ...

    Dann der Anruf vom Architekten eine Woche nach der Baugenehmigung "Wir müssen wegen der gestiegenen Holzpreise nachfinanzieren, 90.000€, mindestens!" Damit war das Projekt gestorben. Dafür reichte unsere Reserve nicht.

    Was tun?
    Nochmal umplanen und neu orientieren mit Mitte 60 & 70?
    Die Antwort war:
    Bestandshaus suchen, das unsere Kriterien erfüllt, und auf aktuellen Baustandard erneuern.
    Suchbereich zwischen Hemmoor und Papenburg, Nord Niedersachsen, kurze Wege zu einem unserer Kinder und sonstiger Verwandter, da meine Frau aus Hannover stammt.

    Die weitere Geschichte ist dort zu lesen → https://www.re-actio.com/wordpress/?cat=6437

    Wir sind 'angekommen'.
    Allen Unkenrufen zum Trotz, und finanziell günstiger als es in Bad Hersfeld gewesen wäre .... bedauerlicherweise werden wir hier abends nicht auf der Terrasse sitzen unter der Rehe und Waschbären herlaufen ....

    Wie oben im Artikel erwähnt:
    Es gibt nichts auf der Welt das NUR positive Seiten hat.

  • #2

    Gisela Enders (Sonntag, 24 Juli 2022 14:36)

    Lieber Wolfgang, danke für Deine Geschichte, die dann ja doch gut ausgegangen ist. Als angehende Neubürgerin von Kassel habe ich auch schon gelernt, dass sich nicht jeder über Waschbären auf der Terrasse freut, von daher ist diese Abwesenheit vielleicht gar nicht schlecht.
    Viele Grüße
    Gisela